KIEW—Am Sonntagmorgen um 11 herrscht Hochbetrieb im College für Bauwesen, Architektur und Design unweit des Kiewer Hauptbahnhofs. Im Wahllokal 800884 stehen Rentner, Studenten und junge Eltern mit Kindern geduldig Schlange, um in den wichtigsten Präsidentschaftswahlen der unabhängigen Ukraine ihre Stimme abzugeben. Wegen den Kriegshandlungen im Osten fehlten die Mittel, mehr Helfer einzustellen, erklärt eine ältere Dame von der Wahlkommission die Wartezeit.
Draußen im strahlenden Sonnenschein eilen die Wähler nach der Stimmabgabe davon. Zu hören bekommt man von ihnen die Namen von nur zwei Kandidaten – Petro Poroschenko und Julija Timoschenko. Obwohl insgesamt 21 Präsidentschaftsbewerber auf der Liste stehen. Doch die Stimmung war bereits vor der Wahl eindeutig: In den letzten Meinungsumfragen hatte der durch sein Süßwarenimperium reich gewordene Poroschenko einen weiten Vorsprung, auch vor der einstigen Regierungschefin und “Gasprinzessin” Timoschenko. Die Frage war eigentlich nur noch, ob er mehr als die Hälfte der Stimmen schon in der ersten Runde gewinnen würde, um eine Stichwahl am 15. Juni zu vermeiden.
Das sieht ganz so aus: Prognosen zufolge gewann Poroschenko die Wahl mit mehr als 55 Prozent der Stimmen, Timoschenko erhielt lediglich etwas mehr als 12 Prozent.
Ein junger Mann Mitte 20 will seinen Namen nicht nennen, begründet aber seine Poroschenko-Wahl: “Er ist erfolgreicher Manager. Er treibt ein offenes, sauberes Geschäft, und seine Läden sind überall in der Stadt zu finden. Ich hoffe, er wird auch eine solche Ordnung in unser Land bringen.” Im Unterschied zu den Jungen hielten ältere Wähler eher an Timoschenko fest, die 2010 die letzte Wahl gegen Viktor Janukowitsch verloren hatte. Iwan Malyschko, pensionierter Eisenbahn-Maschinist, sagt, sie verdiene eine zweite Chance. Der 69-Jährige hofft, Timoschenko werde ihm seine verlorenen Ersparnisse aus Sowjetzeiten erstatten, die Rente von umgerechnet 150 Euro aufstocken und die Krim zurückholen.
Hoffen auf Ende des Stillstands
Die Ukraine hat auf diese Präsidentschaftswahl gewartet, seitdem vor drei Monaten die Proteste auf dem Maidan in Kiew mit blutiger Gewalt und dem Exodus des gestürzten Präsidenten endeten. Der 25. Mai gilt als das Ende des Machtvakuums, zu dem die überraschende Flucht Janukowitschs am 23. Februar geführt hatte. Die desorientierte provisorische Regierung von Übergangspräsident Oleksandr Turtschynow und dem Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk – beide von Timoschenkos Vaterland-Partei – war zu machtlos, die Annexion der Krim durch Russland und die Entstehung einer bewaffneten, separatistischen Bewegung in der Ostukraine zu stoppen.
Was für eine Entwicklung liegt hinter dem Land. Noch Mitte Februar sah alles ganz anders aus: Der Donezker Janukowitsch hielt das Land fest im Griff, seine Erzrivalin Timoschenko saß eine Haftstrafe ab und kein Mensch konnte sich einen bewaffneten Konflikt mit dem Bruderstaat Russland vorstellen. Jetzt liegt Janukowitschs mächtige Partei der Regionen am Boden. Ihr Präsidentschaftskandidat Michail Dobkin liegt wohl noch hinter seinem ehemaligen Parteifreund Sergej Tigipko.
Im Osten nur eingeschränkt
Doch die Wahl konnte nicht überall ihre befreiende Wirkung entfalten: In der Ostukraine, wo prorussiche Separatisten zwei unabhängige Volksrepubliken ausgerufen haben, konnte die Präsidentschaftswahl nicht einmal durchgeführt werden: In der Region Donezk arbeiteten nur sieben von 22 Wahlkommissionen, in der Region Luhansk gerade einmal zwei von zwölf.
Im Zustand der ständigen Anspannung war der Wahlkampf in der Ukraine fast nie an erster Stelle in den Nachrichten gewesen, was auch den relativ großen Anteil an unentschlossen Wählern in Umfragen erklären könnte. Ein weiterer Grund ist die Abwesenheit von überzeugenden neuen Politikern. Poroschenko ist ein Teil der alten Elite, der in den Regierungen des prowestlichen Präsidenten Viktor Juschtschenko sowie des prorussischen Janukowitsch Minister war. Die ehemalige Regierungschefin Timoschenko rief noch weniger Begeisterung hervor. “Im letzten Monat hat sie einen schlechten Wahlkampf geführt, da sie anfing, Poroschenko persönlich anzugreifen”, sagte der Kiewer Politologe Witali Bala.
“Alle Menschen des Systems”
Entsprechend urteilten die Wähler. “Sie sind alle Menschen des Systems. Ein neuer Anführer muss erst geboren werden. Wir brauchen ein neues Land mit neuen Prinzipien”, sagt etwa Architektin Olga Kornijenko, 27. Sie stimmte trotzdem für Poroschenko, weil sie in ihm immerhin eine Übergangsfigur sieht.
Unabhängig davon wird der neue Präsident vor fast unmöglichen Aufgaben stehen. Nicht nur die Einheit des Landes ist gefährdet, auch die Wirtschaft muss grundsätzlich reformiert werden. Das Assoziierungsabkommen mit der EU, das Janukowitsch im November nicht unterschreiben wollte und damit den Maidan-Protest beförderte, wird wohl Wirklichkeit. Aber eine volle Mitgliedschaft liegt in weiter Ferne. Eine weitere Teilung des Landes, ganz zu schweigen von einem Bürgerkrieg, würde die Integration in den Westen zudem behindern oder unmöglich machen.
Die Rechten wollen nicht weichen
Auf dem Maidan war die Stimmung auch am Wahltag wenig versöhnlich. “Wir werden auf dem Maidan stehen, bis das System sich ändert”, sagte Andrej, ein Wächter vor dem regionalen Stab des rechtsradikalen Rechten Sektors. “Wir haben ein verbrecherisches System der Clans und Oligarchen.” Ihor Kotiv, 48, der seit Januar auf dem Platz in Kiew ausharrt, erwartet vom neuen Präsidenten, das er den Kriegszustand erklärt, um den Aufstand im Osten endlich niederzuschlagen. Doch auch der Präsidentschaftskandidat der Rechten liegt in den Prognosen weit abgeschlagen. Welchen Einfluss sie nach der Wahl nun noch haben werden, ist offen.
Ljudmila Bogatschevitsch, die ihre Stimme für Poroschenko abgab, äußerte sich etwas versöhnlicher. “Weder Europa noch Amerika wird uns unterstützen. Nur ich, meine Kinder und Enkel können ein neues Land aufbauen”, sagte die 67-jährige Rentnerin. “Wir wollten keinen Oligarchen. Wenn er sich als schlecht erweist, gibt es Impeachment, Maidan. Wir werden ihn nicht so lange dulden wie Janukowitsch.”