KIEW—In seine Heimatstadt Horliwka im Osten der Ukraine traut sich Oleg Saakjan nicht mehr zurück. Auch Verwandte, die denselben armenischen Nachnamen tragen, sind umgezogen. In den vergangenen Wochen sind immer mehr Ukrainer aus dem Osten vor der Willkür bewaffneter Kämpfer geflohen. “Es sind hauptsächlich Aktivisten, Intellektuelle und Unternehmer – Menschen, die etwas zu verlieren haben”, sagt der Politik-Student Saakjan in Kiew.
Am 28. April war er noch in Donezk für die Einheit der Ukraine auf die Straße gegangen. An diesem Tag waren dort Hunderte Schläger einem Aufruf prorussischer Separatisten gefolgt, “chirurgische Instrumente” mitzubringen, um die Demonstranten “von ihrer Staatstreue zu heilen”. Der Mob kam mit Schlagstöcken und Ketten und schlug auf die friedlichen Demonstranten ein. Saakjan wurde beinahe sein rechtes Ohr abgerissen. Als sich der 19-jährige Aktivist in Sicherheit wähnte, bekam er noch ein paar Schläge von einem Polizisten, der ihn als “ukrainischen Hurensohn” beschimpfte. Am folgenden Tag fuhr Saakjan mit mehreren Nähten am Ohr 700 Kilometer nach Westen, nach Kiew.
Tausende Menschen sind wie Saakjan zu politischen Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Mittlerweile hat zwar der Milliardär Rinat Achmetow, wichtigster Oligarch der Donezker Region, seine Arbeiter zu Protesten gegen die Separatisten aufgerufen. Doch das ist vor allem ein Zeichen dafür, wie unerträglich die Lage in der Ostukraine geworden ist.
UNHCR schätzt 10.000 Binnenflüchtlinge
Kurz nachdem bewaffnete Kämpfer Mitte April die Stadt Slowjansk in ihre Gewalt gebracht hatten, wurden die Leichen dreier proukrainischer Aktivisten in einem naheliegenden Fluss gefunden: die von Wladimir Rybak, Stadtrat in Horliwka, von Juri Poprawko und Juri Djakovskij, die Studenten waren. Nach Angaben der Vereinten Nationen vom vergangenen Freitag sind 127 Menschen im Süden und Osten der Ukraine getötet worden; 112 wurden unrechtmäßig festgenommen, das Schicksal von 49 Menschen ist unbekannt.
Das UNHCR schätzt die Zahl der Binnenflüchtlinge in der Ukraine auf 10.000. Die meisten von ihnen sind Krimtataren, die nicht unter der russischen Besatzungsmacht leben wollen, zunehmend fliehen aber auch Menschen aus dem Osten der Ukraine. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn viele melden sich nicht amtlich um, manche sind vorübergehend bei Freunden oder Verwandten untergekommen.
Offiziell nicht anerkannte Binnenflüchtlinge
Allein in den vergangenen zehn Tagen hat die NGO SOS Wostok für 1.500 Menschen aus dem Osten Zimmer oder Wohnungen vermittelt – in Städten wie Dnipropetrowsk, Kiew oder Lwiw. Die Aktivisten suchen über eine Website Vermieter, die kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellen, sowie Arbeitgeber, die Binnenflüchtlingen Arbeit geben. Sie haben einen telefonischen Notdienst eingerichtet, der Rechtsberatung anbietet. Und sie rechnen damit, dass nach Ende des Schuljahres kommende Woche noch mehr Hilfesuchende kommen.
“Die Regierung erkennt diese Menschen nicht als Flüchtlinge an”, sagt Tatjana Sarownaja, eine Donezker Journalistin, die selbst seit Mitte April in Kiew wohnt. “Dabei ist unsere Situation schlimmer als die der Menschen auf der Krim.” Im Osten könne man nicht einmal die Polizei um Hilfe rufen. “Die Leute haben schon Angst, wenn sie nur zu Hause sitzen.”
Engagement jenseits des Maidan
In Kiew angekommen, begegnen viele Donezker dem Vorurteil, der gesamte Osten wolle ohnehin nicht zur Ukraine gehören und habe den Schlamassel verdient, erzählt Jekaterina Kyryllowa. Die 32-jährige Mutter aus Donezk hatte die Proteste auf dem Maidan nicht unterstützt und steht einer Annäherung an die EU ambivalent gegenüber. Doch als sie Mitte März in Donezk beobachtete, wie russische Reisebusse russische Staatsbürger mit russischen Fahnen zu Demonstrationen brachten, wurde sie wütend und gründete das proukrainische Internetforum “Donezk ist Ukraine”.
Jetzt engagiert sich Kyryllowa in Kiew gemeinsam mit Saakjan dafür, dass die Regierung die Flüchtlinge aus dem Osten als solche anerkennt. Eine formelle Anerkennung würde bedeuten, dass Geld für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt wird. Doch gleichzeitig wäre sie auch das offizielle Eingeständnis, dass die Lage im Osten außer Kontrolle ist.
Viele Flüchtlinge sind auch in Kiew Aktivisten, denn der Protest auf dem Maidan hat viel dazu beigetragen, dass bei einer neuen Generation ein zivilgesellschaftliches Bewusstsein entstanden ist. Die Menschen nutzen das Internet ebenso wie die Straße, um die Machthaber zur Verantwortung zu ziehen. Er habe keine andere Wahl gehabt, als seine Heimat zu verlassen, sagt Saakjan. “Es bringt ja nichts, wenn ich dort gefangen genommen werde. Hier kann ich viel mehr bewirken, indem ich die Regierung wachrüttele.”