Putins paranoider Krieg gegen Geschichte

Wladimir Putin hat ein gefährliches Hobby. Seine Besessenheit von der Vergangenheit und vom historischen Erbe kostet Tausende von Menschenleben, richtet in der Ukraine Zerstörung an und bedroht Russlands eigene Zukunft.

In der Ukraine kämpft Putin darum, seine Version von historischer Gerechtigkeit wiederherzustellen und das Jahr 2022 zu einem neuen Meilenstein der Weltgeschichte zu machen – auf einer Stufe mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 oder dem Fall der Berliner Mauer 1989. Da sein Geschichtsverständnis jedoch höchst selektiv und politisch verzerrt ist, ist Putins Versuch, die Welt neu zu ordnen, zum Scheitern verurteilt. Sein einziges sicheres Vermächtnis ist ein Platz in der Schurkengalerie der Geschichte.

Im Vorfeld seines erneuten Angriffs auf die Ukraine begründete Putin in einer weitschweifigen einstündigen Fernsehansprache, die wie eine Geschichtsstunde begann, den totalen Krieg. «Die Ukraine ist für uns nicht nur ein Nachbarland. Sie ist ein unveräusserlicher Teil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums», sagte er.

Laut Putin war die moderne Ukraine eine Schöpfung Lenins, die «historisch russisches Land» umfasste. Putin wiederholte eine 5000 Wörter umfassende Abhandlung, die er im Sommer unter dem ominösen Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern» veröffentlicht hatte. Darin behauptete er, dass Russen und Ukrainer «ein Volk» seien und dass der Westen danach trachte, die Ukraine in ein «Antirussland» zu verwandeln.

Ironischerweise hat Putin mehr als jeder andere Kremlherrscher der letzten Zeit dazu beigetragen, die Ukraine in Richtung Westen zu treiben und die Feindseligkeit unter den Ukrainern zu schüren. Vor Putins erster unprovozierter Invasion im Jahr 2014 standen die meisten Ukrainer Russland positiv gegenüber und waren einer Nato-Mitgliedschaft gegenüber weitgehend ambivalent eingestellt. Doch nachdem Putin die Krim besetzt und einen blutigen «Volksaufstand» in der Ostukraine angezettelt hatte, begannen die Ukrainer natürlich, Russland als Feind zu betrachten und die Nato-Mitgliedschaft als sinnvolles Ziel anzusehen.

Kiew, nicht Moskau, ist die Wiege der ostslawischen Zivilisation, welche die heutigen Ukrainer und Russen teilen. Putin hat sich Teile dieser gemeinsamen Geschichte zu eigen gemacht, um seine Annexion der Krim zu rechtfertigen, wo ein mittelalterlicher Kiewer Herrscher namens Wladimir I. – auf Ukrainisch Wolodimir I. – im 10. Jahrhundert zum Christentum konvertierte. In Kiew ist die auf einem Hügel stehende Statue des Fürsten Wolodimir seit mehr als 150 Jahren eines der beliebtesten Symbole der Stadt. Im Jahr 2016 errichtete Putin seine eigene riesige Statue von Fürst Wladimir direkt vor den Kremlmauern.

Die Fernsehsender des Kremls verbreiten die Botschaft, dass alles, was Russen und Ukrainer gemeinsam hätten, beweise, dass sie ein Volk seien, während alle Versuche der Ukrainer, ihre Identität zu behaupten, einen Beweis für westliche Einmischung oder unverhohlenen Faschismus darstellten. Die Ukraine sei ein scheiternder Staat, so die Kreml-Propaganda, und die USA und ihre Verbündeten seien lediglich daran interessiert, das Land als Aufmarschgebiet zu nutzen, um ihr eigentliches Ziel, Russland, anzugreifen.

Putins Überzeugung, dass der Westen der Ukraine militärisch nicht beistehen werde, hat ihm den Freipass gegeben, mit tödlicher stumpfer Gewalt gegen seinen Nachbarn vorzugehen. Putin setzt den Kampf um die Ukraine mit dem Überleben seines Regimes gleich, und er zeigt, dass ihm kein Preis zu hoch ist. Putin scheint die Worte des ehemaligen amerikanischen Beraters für nationale Sicherheit Zbigniew Brzezinski verinnerlicht zu haben, der einmal schrieb, dass «Russland ohne die Ukraine aufhört, ein eurasisches Imperium zu sein». Mit ihren reichen landwirtschaftlichen Flächen und ihrer Schwerindustrie war die Ukraine das Juwel in der Krone des russischen Reiches und später der Sowjetunion. Strategisch gesehen, ermöglichte die Kontrolle über die Ukraine Russland, seine Macht über das Schwarze Meer und tief nach Europa hinein auszudehnen.

Im Jahr 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion als die «grösste geopolitische Katastrophe» des 20. Jahrhunderts. Seine Wortwahl ist aufschlussreich. Trotz dem unsäglichen Leid, das Nazi-Deutschland den Völkern der Sowjetunion zugefügt hatte, endete der Zweite Weltkrieg mit einem geopolitischen Sieg Stalins, dessen neues Reich sich von Prag bis nach Pjöngjang erstreckte, dem absoluten Zenit der russischen Macht. Für Putin bedeutete der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur den Verlust von halb Europa, sondern auch von Gebieten, die viele Russen nach jahrhundertelanger Herrschaft als Teil des Kernlandes ihres Reiches betrachtet hatten.

In Ermangelung einer verbindenden nationalen Idee wählte Putin den «grossen Sieg» der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg, um die Russen hinter sich zu scharen, und veranstaltete zu diesem Anlass am 9. Mai immer grössere Militärparaden auf dem Roten Platz. Er verwandelte die schmerzhaften Erinnerungen der Russen an den Zweiten Weltkrieg in einen Kriegskult, der nun zum Kampf gegen «Nazis» in der Ukraine mobilisiert wird.

Putins Verherrlichung der Roten Armee hat es Russland unmöglich gemacht, sich mit seinen ostmitteleuropäischen Nachbarn zu versöhnen, die nach dem Weltkrieg zu Untertanennationen wurden. Der Kreml hat jede Kritik an der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs als «Geschichtsfälschung» angeprangert und so eine ehrliche Auseinandersetzung mit Stalins Kollaboration mit Hitler vor der Nazi-Invasion in das eigene Gebiet verhindert. Im Dezember verboten die russischen Behörden die Menschenrechtsgruppe Memorial, die sich für die Aufdeckung der Verbrechen des Sowjetstaates und die Bewahrung des Gedenkens an die Opfer einsetzt.

Wenn es den Russen nicht erlaubt ist, die in ihrem Namen begangenen Verbrechen zu verurteilen, werden sie niemals in der Lage sein, sich von der Sowjetmentalität zu befreien. Und solange sie sich nicht von der sowjetischen Vergangenheit befreien können, werden die Russen nicht in der Lage sein, das Paradoxon zu akzeptieren, dass die Sowjetunion gleichzeitig Befreier und Besatzer von halb Europa sein konnte – und dass sie selber Gefangene in ihrem eigenen Land waren.

In einer Ansprache an die Nation am ersten Tag des russischen Angriffs bezeichnete Putin Stalins Nichtangriffspakt mit Hitler als Fehler, und zwar nicht, weil er einen grossen Teil Osteuropas zwischen den beiden Diktatoren aufteilte, sondern weil das Abkommen letztlich die Nazi-Invasion nicht abwenden konnte. Diesmal, so Putin, werde Russland denselben Fehler nicht wiederholen. Er habe keine andere Wahl, als einen Präventivschlag zur «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» der Ukraine zu führen.

Putin mag denken, dass er den Zweiten Weltkrieg wiederaufleben lässt, aber sein Krieg gegen die Ukraine ist in Tat und Wahrheit eine verspätete blutige Konterrevolution gegen die Welle prodemokratischer Proteste, wie er sie als KGB-Offizier in Ostdeutschland vor drei Jahrzehnten miterlebte. Die samtenen Revolutionen in Prag und Ostberlin läuteten das Ende des Sowjetimperiums ein.

Im Jahr 2004 erlebte die Ukraine mit der Orangen Revolution ihre eigene Volksrevolte, und 2011 begannen in Moskau Massenproteste, die zur grössten Herausforderung für Putins Herrschaft werden sollten. Nachdem die Ukrainer 2013 und 2014 erneut auf die Strasse gegangen waren, um gegen ihren vom Kreml gestützten Präsidenten Janukowitsch zu protestieren, beschlagnahmte Putin zunächst die Krim, um die Abdrift der Ukraine nach Westen ein für alle Mal zu stoppen.

Für Putin war die gesamte Zeit nach dem Kalten Krieg eine Zeit der Demütigung Russlands durch einen angeblich feindseligen und höhnischen Westen. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine will er die Ukrainer dafür bestrafen, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben. Doch es geht auch um Rache für Demütigungen durch die westlichen Rivalen. Putin spiegelt das Vokabular von Konflikten, in welche die USA involviert waren, und rechtfertigt sein Vorgehen in der Ukraine mit unbegründeten Anschuldigungen des «Völkermords» an ethnischen Russen oder der Entwicklung von «Massenvernichtungswaffen» durch die Ukraine. Putin begleicht die Rechnung für die Zeit, da Russland hilflos zusehen musste, wie die USA trotz den Einwänden des Kremls im Nahen Osten in den Krieg zogen.

Die gesamte ukrainische Nation ist zum Kollateralschaden von Putins letztem Versuch geworden, Russlands Grösse wiederherzustellen. Putin setzt allein auf harte Macht. Selbst die Sowjetunion besass eine Ideologie mit globaler Anziehungskraft, aber Putins Russland hat anderen Ländern nichts zu bieten – in der gegenwärtigen Wirtschaftslage nicht einmal Petrodollars.

Weniger als einen Monat vor dem Angriff auf die Ukraine legte Putin einen Kranz an einem Denkmal nieder, das den Hunderttausenden von Opfern der grausamen Belagerung Leningrads durch Nazi- Deutschland im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist.

Jetzt ist es Putin, der die Städte in der Ukraine belagert.

Die Ähnlichkeiten mit dem Zweiten Weltkrieg sind offensichtlich – allerdings nicht in der Weise, wie Putin sie sich vorstellt.

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